Predigt vom 10. Mai 2020

Predigt zum Sonntag Kantate, 10. Mai 2020

Bei besonderen Anlässen blickt man gerne zurück,
auch ich bei meiner Einführung als Prädikantin
auf die Zeit in der Johannesgemeinde,
vom ersten Kontakt vor 34 Jahren
beim Taufgespräch anlässlich der Taufe unseres Sohnes
bis zum heutigen Tag.
Es war nicht absehbar, dass ich einmal den Prädikantendienst ausüben werde.
Es war eine lange Entwicklung, die mich und mein Leben in vielerlei Hinsicht bereichert hat.
Gerne hätte ich meine Einführung unbefangener, ohne die notwendigen Beschränkungen,  mit Ihnen und euch gefeiert …
Aber danke an die vielen, die alles vorbereitet haben und auch jetzt dazu beitragen,
dass wir heute wieder Gottesdienst feiern
und es ein würdiger Gottesdienst geworden ist.
Die Johannesgemeinde ist mir im Lauf der Jahre sehr wichtig geworden.
Ich habe ihr und den Menschen der Gemeinde sehr viel zu verdanken,
Deshalb möchte ich vorweg herzlich Dank sagen
für die Gemeinschaft und den besonderen Geist in unserer Gemeinde,
für alles Wohlwollen, alle ehrlichen Worte und kritischen Diskurse
und für alle theologischen Impulse besonders in Gottesdiensten und Predigten….

1. Mose 50
15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Bei besonderen Anlässen blickt man zurück,
Der 75. Jahrestag des Kriegsendes ist ein wichtiger Anlass dieser Tage.
Auch ohne Feierlichkeiten gibt es in den Medien
viele Rückblicke und Zeitzeugenberichte.
Mich hat das Schicksal eines Jungen sehr berührt,
das Schicksal von Jakub Szabmacher aus dem polnischen Belzyce (Belzec) bei Lublin.
Er wurde mit seiner jüdischen Familie von den Nazis verschleppt,
außer ihm überlebte keiner das Kriegsende.
Allein auf sich gestellt kam er über mehrere KZ-Stationen nach Flossenbürg,
er musste als 15-Jähriger im Steinbruch und in der Flugzeugproduktion schuften.
Im April 1945 war er so ausgezehrt und geschwächt,
dass er den von der SS geplanten Marsch aller Häftlinge ins 200 km entfernte Dachau –
den berüchtigten Todesmarsch - wohl nicht überstanden hätte.
Ein älterer Mitgefangener versteckte ihn auf den Heizungsrohren unter der Wäscherei,
ein anderer sorgte dafür, dass er im Lazarett von der SS nicht entdeckt werden konnte.
Als die US-Truppen das KZ befreiten, war Jakub der jüngste Überlebende.
Er wurde von einem US-Offizier adoptiert und nach Amerika mitgenommen.
Dort nannte er sich Jack Terry,
er studierte, wurde Psychotherapeut und lebt heute in New York City.
Er wollte zu den geplanten Gedenkveranstaltungen nach Flossenbürg reisen
und zurückblicken auf erlittenes Unrecht, Qualen und Leid,
aber auch auf Mitmenschlichkeit, Errettung und Bewahrung.

Dieses Schicksal erinnert mich an Josef…
Ein Rückblick auf erlittenes Unrecht, Qualen und Leid –
und auch auf wunderbare Errettung und Bewahrung
ist auch die Josefsgeschichte und insbesondere unser Predigttext.
Josefs Vater Jakob war hochbetagt gestorben.
Nun befürchteten die Brüder, dass Josef ihnen nachträglich alle Bosheit,
die sie ihm angetan hatten, vergelten würde,
sie baten ihn um Vergebung.
Aber Josef weinte, heißt es dazu.  Warum weinte er?
Das bleibt im Text ganz ausgespart…,
dem will ich etwas nachspüren, in verschiedener Hinsicht.
Wir können uns vorstellen, wie in Josef die Erinnerung aufstieg,
die Erinnerung, wie seine Brüder ihn,
das verhätschelte und verhasste Lieblingskind des Vaters
in eine Grube warfen und dann an eine Karawane verkauften…
Die Erinnerung an Josefs Leben in Ägypten als Diener und Gutsverwalter,
die Verleumdung durch die Frau seines Herrn,
seine Jahre im Gefängnis und
dank seiner Gabe der Traumdeuterei sein Aufstieg am ägyptischen Hof.
Alles, was er tat, das ließ der HERR in seiner Hand glücken, heißt es.
Nun – viele Jahre später –
baten seine Brüder ihn, inzwischen Stellvertreter des Pharaos,
um Vergebung.

Es ist nicht leicht, um Vergebung zu bitten.
Wir alle haben diese Erfahrung gemacht,
vielleicht schon in der Kindheit,
vielleicht im familiären Umfeld, innerhalb der Gemeinde
oder gegenüber einem ganz fremden Menschen.
Wenn ich um Vergebung bitte,
muss ich mich mit den dunklen Seiten der eigenen Person auseinandersetzen
und mit den Folgen des eigenen Handelns für andere.
Ich muss Schuld eingestehen
und mein Tun bereuen. -
Um Vergebung bitten, das war auch für Josefs Brüder nicht leicht,
Zweimal nahmen sie Anlauf:
Das erste Mal schickten sie Fürsprecher zu Josef,
gaben vor, dass Josefs Vergebung der letzte Wille des Vaters gewesen sei.
Josef weinte, heißt es nur.
Beim zweiten Mal gingen sie persönlich zu Josef und fielen wie Knechte vor ihm nieder.

Es ist auch schwer zu vergeben.
Wenn ich vergebe,
muss ich mich damit abfinden,
dass das geschehene Leid nicht ungeschehen gemacht werden kann,
ich muss darauf vertrauen, dass die Reue des anderen echt ist,
und ich sollte anerkennen,
dass auch ich oft genug schuldig geworden bin, und der Vergebung bedarf.
Josef weinte.
Es war auch für Josef nicht leicht zu vergeben.

Es ist schwer zu vergeben,
und nicht jede/r schafft es.
Im Jahr 2002 wurde ich gebeten,
in der Johanneskirche die Ansprache beim Frauen-Weltgebetstag zu halten.
Gastland war damals Rumänien und das Motto „Zur Versöhnung herausgefordert“,
ein brisantes Thema nach dem Ende der Ceaucescu-Diktatur
und nach dem Leid, das sich Deutsche und Rumänen während und nach dem Krieg zugefügt hatten.
Nach dem Gottesdienst sprach mich eine Rumäniendeutsche aus Siebenbürgen an.
Sie war sehr erregt und lehnte Vergebung und Versöhnung ab –
nach allem, was ihr und ihrer Familie während der Flucht und Vertreibung angetan worden war.
Wir hatten ein langes, emotionales Gespräch ohne Ergebnis,
es war eine irritierende Erfahrung für mich…

Nicht jeder kann vergeben.
Das zeigten mir auch manche Zeitzeugen-Berichte,
die ich dieser Tage las oder hörte.
Dabei ist Vergebung so wichtig.
Ohne Vergebung bleibt die Gefahr der Vergeltung,
schon Josefs Brüder befürchteten das.
Ohne Vergebung führt erlittene Gewalt zu neuer Gewalt,
Leid zu neuem Leid.
Schuld führt zu immer neuer Schuld und zu Aufrechnung von Schuld.
Wir können es täglich erleben, etwa im Nahen Osten.
Wir haben es lange Jahre erlebt in unserem Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn.
Die meisten Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges
haben nicht überlebt – auch daran muss man erinnern.
Die kollektive Scham über das Unrecht  und Leid,
das von Deutschland ausging, ist nicht zu Ende.
Rückblick und Erinnerung daran sindwichtig
für Vergebung und Versöhnung
mit Überlebenden wie Jakub Szabmacher, alias Jack Terry,
für Vergebung und Versöhnung
zwischen Josef und seinen Brüdern,
und unter uns heute, im Kleinen wie im Großen..
„Vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern;
wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“

so haben wir es vorhin in der Lesung aus dem Kolosserbrief gehört.

Josefs Haltung war schon früher versöhnlich.
Während der großen Hungersnot traf er seine Brüder in Ägypten wieder.
Er gab ihnen Getreide für ihre Familien,
auch wenn er sich zunächst nicht zu erkennen gab und sie hart auf die Probe stellte.
Und er verschaffte ihnen in Ägypten eine neue Existenz.
Trotzdem fürchteten die Brüder sich vor Josefs Vergeltung.
Josef weinte… 
Josef  wusste wohl auch um seine eigene Schuld,
gerade auch gegenüber seinen Brüdern,
als sie alle noch im Hause des Vaters waren.
Unrecht und Leid hatte er von den Brüdern erfahren,
aber Gott hatte ihm geholfen und ihn bewahrt.
Zeitzeugen der Nazizeit zeigen sich im Rückblick oft dankbar,
dass sie nach langem Leid noch viel Gutes in ihrem Leben erfahren durften.
Und Josef war dankbar für ein langes, erfülltes Leben in Gottes Hand.
So steht am Ende die Versöhnung:
Er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Fürchtet euch nicht. Stehe ich denn an Gottes statt?

Die Schuld kann er nicht tilgen, das überlässt Josef  Gott.
Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen.
Aber Gott gedachte es gut zu machen.

und Gott meinte es nicht nur gut mit Josef,
sondern auch mit den Brüdern und ihren Nachkommen.

Gott meint es auch gut mit uns.
Wir leben von Gottes Vergebung
und vertrauen auf Hilfe und Bewahrung, auch in Corona-Zeiten.
Dankbar feiern wir diesen Gottesdienst heute
und genießen erste Erleichterungen der Beschränkungen.
Auch der bisherige Verlauf der Pandemie lässt uns hoffen.
Zwar wissen wir noch wenig über das Virus und seine tatsächliche Gefährlichkeit.
Unsere Gesellschaft, die Wissenschaftler und die Politiker
ringen um den rechten Weg, die Krise zu meistern.
Maßnahmen, die getroffen wurden und werden,
sollen möglichst Gutes bewirken
und nehmen doch böse Nebenwirkungen in Kauf.
Der Rückblick auf Corona steht noch aus.
Aber ich bin überzeugt,
auch dann gilt unser Bibelwort:
Ihr gedachtet es böse (oder auch gut) [ … ] zu machen.
Aber Gott gedachte
(und gedenkt) es gut zu machen.
Amen
                                              
                                                            Friedegard Brohm-Gedeon
 

 

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