Predigt vom 11. September 2022

Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis am 11.9.2022

Predigttext     Lukas 10, 25-37

 

25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Herr, segne unser Reden und Hören durch deinen Heiligen Geist. Amen.

Predigt

I.

Liebe Gemeinde!

Wenn die Welt ein Dorf wäre, dann wäre alles einfacher. Wenn die Welt ein Dorf wäre, dann wüsste ich genau, wer meine Hilfe braucht. Dann würde ich jeden Tag sehen, wer ein Stück Brot oder ein gutes Wort benötigt. David J. Smith hat in seinem Buch „Wenn die Welt ein Dorf wäre...“ versucht, die Welt in einem Dorf abzubilden. Er hat das Verhältnis aller Erdbewohner auf 100 Menschen in einem Dorf übertragen. Die kaum überschaubaren Fakten aus allen Ländern dieser Erde wurden in einem Dorf konzentriert.

Da gibt es das größere Amerikahaus im Dorf mit enormem Stromverbrauch und das riesige Asienhaus, wo viele Mandarin sprechen. Ich wüsste in diesem Dorf genau, wer noch keinen Stromanschluss hat und wer über offenem Feuer kocht. Ich wüsste sicher auch, wer viel Geld hat und ich würde den kennen, der gerade aus seinem Haus geworfen wurde und dringend ein Dach über dem Kopf benötigt.

Wenn die Welt ein Dorf wäre, dann wäre mir klar, wer Hilfe braucht. Und ich wüsste sofort, wen ich fragen könnte, damit er mir hilft, anderen zu helfen. So geh hin und tu desgleichen!, wäre deutlich einfacher.

II.

Was Christeninnen und Christen in unserer globalen und vernetzten Welt tatsächlich tun sollen, oder eben auch nicht, hat vor zwei Jahren die emotionale und aufwühlende Debatte in unserer Landeskirche über die dramatische Situation von Flüchtlingen im Mittelmeer offengelegt.

Nachdenkliche und fromme Menschen nahmen dazu völlig konträre Positionen ein, die viele, so oder so, entsetzt haben. Seawatch 4, das von der EKD mitfinanzierte Rettungsschiff, führte zu Kirchenaustritten. Die widerständige Position eines Pfarrers in Nürnberg provozierte dann einen Bruch innerhalb der Kirchengemeinde, der ratlos machte.

Ich stelle mir vor, die Welt wäre wirklich ein Dorf. Auf einmal ruft es aus dem Dorfteich um Hilfe. Alle bekommen das mit, alle rennen hin und tun alles, um diesen einen Menschen zu retten. Die Welt stände still. Alle Arbeit bliebe liegen.

Viele kennen den Teich und haben schon erlebt, wenn man aus Jux und Übermut zu lange unter Wasser gedrückt wurde. Hinrennen und helfen, wäre einfach ein Reflex, weil man den Nachbarn seit Jahren kennt.

Vermutlich ganz anders wäre es jedoch, wenn auf dem Dorfplatz auf einmal ein bis zwei Fremde ständen. Sie erzählen, im Nachbardorf sei es nicht so schön wie hier. Es gäbe weniger Arbeit, weniger zu essen und die Kinder hätten keine Schule. Und die aus dem anderen Nachbardorf haben sie aus dem Fluss zwischen den Dörfern gezogen und nun hierhergeschickt. Unsere kleine Dorfgemeinschaft soll nun für eine Wohnung, für Essen und Ausbildung sorgen. Abweisen und zurückschicken ist sicher nicht das, was Jesus meinte, als er sagte: So geh hin und tu desgleichen!

III.

Gott sei Dank ist die Welt kein Dorf. Gott sei Dank bekomme ich die Not vieler Menschen in unserem Land gar nicht mehr mit. Ich weiß kaum, wie es Obdachlosen in anderen Städten geht. Oder Kindern bei Alleinerziehenden in einer Hochhaussiedlung. Oder Drogenabhängigen in einem Dorf an der tschechischen Grenze. Gott sei Dank, ich bin da meistens fein raus, weil ich gar nicht alles wissen will und kann.

Und Gott sei Dank gibt es viele Organisationen, die sich professionell um diese Menschen kümmern. So haben bereits 1888 in Berlin sechs Zimmerleute einen „Lehrkursus über die Erste Hilfe bei Unglücksfällen“ organisiert, damit man sich gegenseitig bei Unfällen in Werkstätten und Betrieben helfen konnte. Anlass war ein Unglück im märkischen Eiswerk in Erkner. Eine große Wand stürzte beim Bau einer Lagerhalle ein und begrub drei Zimmerleute unter sich. Das war die Geburtsstunde des Arbeitersamariterbundes – ASB – mit heute über 40.000 Hauptamtlichen und 20.000 neben- und ehrenamtlich Mitarbeitenden.

Die Angst aller Führerscheinneulinge bei der Ersten-Hilfe-Ausbildung, „Was tue ich, wenn ich tatsächlich zu einem Unglück dazukomme?“, ist heute mit Mobiltelefonen kleiner denn je. Ein Anruf und Rettungsdienst, Feuerwehr, THW und Polizei sind minutenschnell vor Ort.

Dennoch: Meine Verantwortung als Ersthelfer vor Ort bleibt. Auch strafrechtlich komme ich bei unterlassener Hilfeleistung nicht ungeschoren davon. Es ist meine Pflicht, einem Menschen zu helfen, der sich selbst nicht helfen kann.

Jede abstrakte Diskussion, mit fragwürdigen Einwänden und Gegenargumenten, wie sie der Schriftgelehrte mit Jesus führen wollte, ist und bleibt eine billige Ausrede. So geh hin und tu desgleichen!

Und wenn schon nicht Jesus, das deutsche Strafgesetzbuch oder die gute Erziehung Motivation genug sind, anderen in Not unmittelbar zu helfen, dann sollte zumindest die sprichwörtlich gewordene Goldene Regel im Kopf bleiben: „Was du nicht willst, dass man dir tu`, das füg` auch keinem andern zu.“ Oder eben umgekehrt: Wenn du Hilfe in Not willst, dann hilf anderen in der Not.

Eben: ganz schlicht: So geh hin und tu desgleichen!

Etwas abstrakter hat es der Philosoph Immanuel Kant formuliert: Handle stets so, dass dein Handeln zum allgemeinen Weltgesetz werden kann. Also zum Bespiel: Wenn einer im Dorfteich zu ertrinken droht, kann niemand wollen, dass Nichthelfen zum allgemeinen Weltgesetz wird. Oder, wenn einer auf dem Dorfplatz im Schneeregen steht, dann ist doch eine warme Dusche, ein heißer Tee und warme Kleidung selbstverständlich.

Ja, wenn die Welt wirklich ein überschaubares Dorf wäre, dann wäre alles klar. Aber die Welt ist kein Dorf. Würden Sie Fremde bei sich in der Wohnung aufnehmen? Ihr Bad benutzen lassen? Ihnen von Ihrer Kleidung etwas abgeben? Bei Notfällen in unmittelbarer Umgebung funktioniert das auch bei Nichtfamilienmitgliedern noch immer erstaunlich gut. Wenn ein Haus abbrennt, wird unkompliziert Wohnraum und alles andere organisiert. Oder wenn Eltern dramatisch verunglücken, kommen Kinder oft unmittelbar bei Schulfreunden unter.

Doch bei so richtig Fremden, vielleicht noch ungewaschen, mit einer anderen Sprache und zweifelhaften Absichten? Was ist, wenn die plötzlich vor der Tür ständen? Und so ganz nebenbei: Wer kennt ein Dorf oder eine andere Nachbarschaft, einen Wohnblock oder eine Siedlung, wo wirklich alle mit allen können? Gibt es nicht immer welche, die nicht wirklich dazu passen? Und ist man nicht selbst manchmal auch der, der nicht dazugehört?

Wenn die Welt ein Dorf wäre, dann wäre alles etwas kleiner, aber nicht alles wäre tatsächlich gut.

IV.

Weil in dieser Welt nicht alles gut ist, gerade deshalb ist Gott in Jesus Christus Mensch geworden. Doch auch Jesus hat nicht allen geholfen und nicht alle Wünsche erfüllt. Und an Jesus haben sich Streitigkeiten entzündet, die dem Diskurs über das „Ertrinken - lassen“ von Flüchtlingen um nichts nachstehen.

Gerade deshalb ist die Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter auch in der Lutherbibel 2017 mit „Die Frage nach dem ewigen Leben“ überschrieben. Es geht nicht darum ein „bisschen netter zu anderen zu sein“ oder um „doch lieber Biogemüse einzukaufen, um ein wenig die Welt zu retten“.

Es geht schlicht um die Frage, was entspricht dem, was Gott von mir erwartet. Im Matthäusevangelium in Kapitel 25 wird dies in der Schilderung des Weltgerichts beschrieben. Hier steht, wie Jesus das mit dem Nächsten und dem anderen ein Nächster werden, meint.

Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.

Das sind die Bibelstellen, die Kopfzerbrechen machen. Nicht, weil sie unklar wären. Sondern, weil diese Bibelworte uns in die Pflicht nehmen. Weil eindeutige und klare Handlungsanweisungen gegeben werden.

Auch, wenn die Welt kein Dorf ist, auch, wenn wir in Siedlungen oder größeren Marktflecken und Städten leben, die Frage bleibt die gleiche. Und die Antwort ebenfalls: Das ewige Leben, das Leben bei Gott hat bei den Evangelisten Lukas und Matthäus mit dem zu tun, was ich tue oder nicht tue.

So geh hin und tu desgleichen!. Das gilt auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem ebenso, wie in dem Dorf und in der Welt, in der ich lebe.

Und was ist, wenn ich das nicht schaffe? Weil ich nachts an einer Unfallstelle Angst habe, dass mir auch etwas passiert? Weil Aktenzeichen XY seit 1967 bei den meisten von uns tiefe Spuren der Verunsicherung hinterlassen hat. Überall wittern wir – und leider nicht immer zu Unrecht – Hinterlist und Tücke.

Und wer ist nicht schon einmal selbst wegen seines guten Herzens betrogen worden? Und hat nicht gerade auch Martin Luther immer wieder betont, dass die Werke gerade nicht den Weg in den Himmel, den Weg zum ewigen Leben bei Gott bereiten? Dass wir allein aus Glauben und aus Gnade von Gott angenommen werden und dass unsere vermeintlich guten Werke nicht helfen?

Zunächst scheint es, als ob wir mit diesen Gedanken wieder nah bei dem Gesetzeslehrer sind, die versuchen, ihr Wegsehen und Nichtstun zu entschuldigen. Doch Lukas will gar nicht richten, wer das ewige Leben bekommt und wer nicht. Lukas will uns die Augen öffnen für etwas Anderes. Er spricht von der Selbstverständlichkeit, anderen in Not zu helfen.

In einem Dorf lebt der Nächste in Sichtweite. Es ist selbstverständlich, dass man sich gegenseitig hilft. Der Samariter, sieht den, der unter die Räuber fiel. Weil er nicht wegschaut, wird er ihm zum Nächsten. Er tut einfach, was offensichtlich ist.

Also: Geh hin und tue desgleichen!

Amen.

Arno Mattejat nach einer Vorlage von

Pfarrer Thomas Wolf

Kulmbacher Straße 4, 95512 Neudrossenfeld

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