Predigt vom 3. Juli 2022

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 3.7.2022

Evangelium: Lk 15, 1-3.11b-32

Predigttext:  Ezechiel 18, 1-4. 21-24. 30-32

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. 21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. 23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? 24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern wegen seines Treubruchs und seiner Sünde, die er getan hat, soll er sterben. 30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben müsste, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde!

Ihr habt da unter euch so ein Sprichwort: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.

Stumpfe Zähne? Was soll das sein? Was kann man damit noch machen? Stumpfe Messer und Scheren kann man schleifen; aber mit stumpfen Zähnen ist noch niemand zum Zahnarzt gegangen. Sie sind einfach unbrauchbar. Sie haben ihren Daseinszweck verfehlt.

Sie taugen nur noch als Bild für ein Leben, das – da ist das Wort wieder – abgestumpft ist, ein Leben, das seinen Sinn verloren hat, stumpf-sinnig eben; ein Leben ohne Perspektive. Manchmal ist die Luft einfach draußen. Die Energie reicht vielleicht gerade noch für die Frage: Warum ist es so weit gekommen?

Warum tappe ich immer wieder in die gleichen Fallen der Traurigkeit; mache dieselben Fehler, verfalle in alte Muster? Warum bereite ich anderen die immer gleichen Enttäuschungen?

Warum bin ich, wie ich bin?

Die Passbehörde will als Antwort auf diese Frage von mir ein biometrisches Foto und neuerdings einen Fingerabdruck.

Die Ärztin will von mir Alter, Größe und Gewicht wissen und dazu meine Vorerkrankungen.

Fragt man meine Freunde, wer ich sei, berichten sie von meinen guten und schlechten Eigenschaften; von meinem Charakter.

Und ich selbst? Ich würde als Antwort meine Geschichte erzählen. Da käme dann zur Sprache nicht nur, wie ich jetzt bin, sondern wie es dazu gekommen ist, dass ich bin, was ich bin.

Die berühmte „Warum-Frage“ ist oft quälend, und sie kann sogar selbstzerstörerisch sein. Mit meinen sogenannten guten Seiten habe ich da kein Problem. Die Antwort hefte ich mir gern an die eigene Brust: mein Fleiß, meine Begabung, Hartnäckigkeit; vielleicht einfach nur mein Charme usw.

Aber wie ist es bei den Dingen, die mir immer misslingen, oder wo mein Weg voller Abwege war, mir das Leben Knüppel zwischen die Beine geworfen hat? Da gerate ich bei meiner Geschichte leicht ins Stolpern und Stocken.

Wie gut, da ein Sprichwort zur Hand zu haben, das weiterhilft: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.

Ich bin das, was ich geworden bin, und nicht für alles trage ich die Verantwortung.

Vieles habe ich allein entschieden. Meinen Beruf habe ich allein gewählt. Mehr oder weniger auch den Ort, an dem ich lebe und die Menschen, mit denen ich mein Leben teilen möchte.

Doch es gibt auch Sachen, die konnte ich gar nicht beeinflussen.

Genauso wird es mit den Generationen nach uns sein: Sie werden geprägt von unserer Art zu leben; von dem, was wir tun und versäumen.

Ich bin nicht allein verantwortlich: Die Väter haben doch die sauren Trauben gegessen.

Ich bin z.B. (nicht nur genetisch) geprägt durch meine Eltern; durch die Vorbilder, die sie mir an die Hand gaben und die Lebenswelt, in die sie  mich hinein gestellt haben. Wie viele Menschen leiden lebenslang unter dem Erwartungsdruck, den ihnen die Eltern auf die Schultern gelegt haben? Wie schwer kann es sein, Kind berühmter oder auch berüchtigter Eltern zu sein? Der furchtbare Krieg in der Ukraine bringt ans Tageslicht, wie sehr die Generation der heute 80- und 90-jährigen geprägt ist von eigenen frühen Erfahrungen von Krieg und Vertreibung.

Wir blicken auf Israel zur Zeit des Propheten Ezechiel. Wie gut, dass sie dieses Sprichwort hatten, das ihnen helfen konnte, die eigene bedrückende Situation zu verstehen -  eine Überlebensstrategie in schwerer Zeit.  Und es gab ja viel zu erklären.

Der Tempel war zerstört und damit das Ende des Gottesdienstes besiegelt, wie er vertraut war. Jerusalem war erobert und die Oberschicht des Volkes ins Exil deportiert. Was einmal Halt gab, war zerbrochen; der Boden unter den Füßen weggezogen.

Wenn man schon nicht weiß, wozu Gott das alles zuließ, dann wenigstens warum: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Haben nicht Mose und die Propheten eindringlich vor dem Essen saurer Trauben gewarnt? Als da sind: Das Übertreten von Gottes Gebot, das Abirren von seinen Wegen, das Vergessen seiner Barmherzigkeit und Treue. Dann, so sagten sie, wird sich sein Segen von euch wenden. Ihr werdet nicht in dem Land bleiben, das u.a. für seine süßen Trauben bekannt ist…

Das Sprichwort sagt: Wir müssen jetzt auslöffeln, was die Väter uns eingebrockt haben. Wie gut, wenn man jemand hat, der Schuld ist, auf den man die Verantwortung abwälzen kann.

Nein, sagt Ezechiel im Namen Gottes, dieses Sprichwort soll nicht mehr unter euch gelten. Denn alle Menschen gehören Gott.

Ist es nicht tröstlich zu wissen, dass auch mein Leben und alle Zeit meines Lebens Gott gehört, der sagt: Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?

Gott will nicht, dass mir die Zähne stumpf werden und ich mein Leben verfehle. Er will das es gelingt unter dem Horizont seiner Liebe, seinen Geboten und seiner Barmherzigkeit. Dazu lädt er uns auch heute ein, wie es deutlicher als mit dem Evangelium nicht gesagt werden könnte.

Alle Menschen gehören Gott. Das ist die Antithese zu Fatalismus und jeder Art von Schicksalsgläubigkeit. Alle Menschen gehören Gott. Sie sind nicht Sklaven der Vergangenheit und ihrer Geschichte.

Ja, ich bin auch meine Geschichte. Ich bin das, was mich geprägt hat, und meine Handlungen begleiten mich. Therapeuten finden in meiner Vergangenheit ein unerschöpfliches Arbeitsfeld. Weil ich aber Gott gehöre, weil ihm alle meine Zeit gehört: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bin ich nicht für immer festgelegt auf das, was gewesen und geworden ist. Es muss nicht alles so bleiben, wie es schon immer war.

Gerät hier die Theologie, die von der Neues schaffenden Macht Gottes zu sprechen hat, in Widerspruch zur Psychologie?

Nicht unbedingt. Denn die Spurensuche in der Vergangenheit dient ja auch der Veränderung und Heilung.

Die Bibel spricht hier von Buße oder Umkehr, deren Voraussetzung freilich eine andere ist. Umkehr ist möglich, weil Gott mir die Freiheit dazu gibt, mich zur Umkehr einlädt. Könnte es ein schöneres Bild dafür geben als die ausgebreiteten Arme des Vaters im Evangelium, der auf seinen Sohn wartet? Für uns gewinnen sie wohl Gestalt in den ausgebreiteten Armen Jesu am Kreuz.

Die andere Seite der Freiheit, zwischen süßen und sauren Trauben, scharfen und stumpfen Zähnen zu wählen, ist die Verantwortung, die ich für mein Leben habe. Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist, sagt Gott. Es ist nicht gemeint, dass wir uns selbst zusammensuchen müssten oder könnten, was unser Leben trägt. Wir dürfen uns ausrichten, auf den Geist, den Gott gibt, der unser Leben erneuern will und die Augen öffnet für den Reichtum unseres Lebens mit Gott, für das Fest, das Gott uns bereitet.

Wer bin ich? Ja, ich bin meine Geschichte. Aber es reicht nicht aus, nur Vergangenes zu erzählen. Ich bin auch der, dem heute Gottes Einladung gilt zu einem Leben, das unser Evangelium in das Bild eines Festmahls kleidet.

Es wird dort nicht immer gemästetes Kalb geben; bestimmt auch süße Trauben…

Gut, dafür brauchen wir die scharfen Zähne nicht. Aber wir werden sie bestimmt noch brauchen. Doch das muss uns nicht ängstigen.

Zu mir gehört auch schon jetzt das Morgen, die Zukunft als mich tröstende Verheißung, dass auch sie Gott gehört.

Wer ich bin? In Gott ist alles zusammengefasst, denn meine Zeit steht in seinen Händen. Amen.

 

Pfarrer Cyriakus Alpermann

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