Predigt vom 27. September 2020

Predigt über 2.Tim 1,7-10, 16. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

Vermutlich haben sie den ersten Vers im Ohr: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Es ist ein beliebter Spruch für Taufe, Konfirmation, Trauung und Ordination. Zuletzt ist er mir begegnet in einem Brief unseres Landesbischofs zu Beginn der Coronazeit. Die Intention ist immer die gleiche: Mut wird uns zugesprochen; Vertrauen sollen wir wagen, um das zu leisten, was ansteht oder einfach durchgestanden werden muss. Wie überzeugend das bei uns ankommt, hängt nicht zuletzt von der Person ab, die uns ermutigen möchte. Paulus, der nach der Überschrift im Neuen Testament der Verfasser dieses Briefes an Timotheus ist, ist eine große Autorität. Die neutestamentliche Wissenschaft ist sich aber ziemlich einig, dieser Brief kann nicht von Paulus sein, weil seine Gedanken nicht zu dem passen, was man für den authentischen Paulus hält. Der Briefschreiber hat sich des Namens bedient, um seinem Brief eine größere  Autorität zu geben. Was soll man dazu sagen? Ist das für unser Verstehen wichtig?

Der bekannteste Geigenbauer überhaupt ist wohl Antonio Stradivari. Seine Instrumente sind so gut, dass sie vielfach kopiert wurden. Und nicht nur mittelmäßige, auch richtig gute Geigenbauer haben ihre Instrumente unter seinem Namen verkauft. Für einen Sammler ist es natürlich eine Katastrophe, wenn sich eine teuer gekaufte Geige im Nachhinein als Fälschung herausstellt. Aber für den Spieler und vor allem die Hörer ist es eigentlich egal, wenn denn die Geige auch so gut klingt wie eine echte Stradivari. Denn darauf kommt es letztlich an.

Paulus hin oder her. Entscheidend ist, dass Gott diese Worte gebraucht, um uns etwas zu sagen. Wichtig ist, dass wir verstehen, wie Gott durch sie in unser Leben tritt.

Mich haben diese Zeilen an einen gewöhnlichen Vorgang erinnert, den wir alle kennen. Jemand hat gesundheitliche Beschwerden und deutliche Krankheitssymptome. Er geht zum Arzt mit der Erwartung, nicht nur eine Diagnose, sondern auch ein Rezept zu bekommen, damit er schnell wieder gesund wird. Die Diagnose, die Paulus dem Timotheus stellt, lässt sich leicht herauslesen: Es ist die Angst, die Timotheus befallen hat und ihn lähmt. Die Angst, dass die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Christus, mit dem sich Gott identifiziert, nicht mehr ankommt; dass er sich damit blamiert.

Die Krankheit der Angst ist ganz schön verbreitet. Die Liste ist lang. Und die Ängste je nach Lebensalter verschieden. Die Angst, in der Schule und später in Studium oder Beruf zu versagen. Die Angst, dass Partnerschaft oder Familie zerbrechen könnten. Und irgendwann die Angst vor dem Alter, vor Einsamkeit und vor dem Sterben.

Das Überraschende ist, Paulus stellt uns kein Rezept für die Apotheke oder gar die Kirche aus, sondern eines, dass wir nur bei uns selber einlösen können. Die Medizin, sagt er, steht schon längst in deinem Arzneischrank. Denn Gott hat uns gegeben den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes hat Gott uns bei unserer Taufe diesen Geist gegeben. Und die immer wieder erneuerte Bitte um den Heiligen Geist ist nichts anderes als die Bitte, dass Gott uns mit diesem Geist so erfüllt und durchdringt, dass er unser Leben formt und durch uns wirkt, dass Gott durch ihn vollendet, was er einmal begonnen hat.

Darum sind die Zeilen an Timotheus im Kern eine Erinnerung. Du hast diesen Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Also vertraue auf ihn. Rede, handle, lebe in diesem Geist.

 Solche aufmunternden Worte haben immer zwei Seiten. Es ist schön, wenn mir etwas zugetraut wird. Aber gleichzeitig wird auch etwas von mir erwartet. Es wird erwartet, dass ich dieses Vertrauen rechtfertige.

Und diese Erwartung an mich kann zu einer lähmenden Last werden, die bleischwer auf mir liegt. Doch zum Gelingen gehört ja nicht nur, dass mir etwas zugetraut wird; ich muss es mir auch selber zutrauen.

Wenn es beim Musizieren eine technisch schwere Stelle gibt, die ich besonders intensiv geübt habe, und ich denke beim Spielen mit Bangen nur an die Schwierigkeit, nicht aber an die Musik, dann wird sie garantiert nicht gelingen.

Schon immer habe ich mit großer Faszination bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen das Finale der Männer über den 100-Meter Sprint angeschaut. Das sind schon besondere Typen, die da zum Wettkampf antreten. Vollgepumpt mit Adrenalin und Selbstbewusstsein; mental so trainiert, dass sie wohl jeden Morgen mit dem Satz aufstehen: Ich bin der Beste! Und immerhin: Einer ist ja dann auch der Beste.

Den meisten von uns ist dieser Weg – über großes Selbstbewusstsein zur Höchstleistung -  leider versperrt. Warum eigentlich? Wir haben doch auch den Geist der der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Aber wir haben ihn, wie Paulus im 2. Korintherbrief verdeutlicht, in irdenen, also zerbrechlichen Gefäßen, damit deutlich wird, Kraft, Liebe und Besonnenheit – sind nicht unser Besitz, das sind nicht unsere Möglichkeiten, sie bleiben Gottes Gabe.

Wenn wir auf unsere Aufgaben sehen, dann fällt der Blick eben mindestens auch auf diese irdenen Gefäße, auf das Zerbrechliche, auf Mutlosigkeit und Unvermögen. Was nützt da ein Appell? Du schaffst das! Stell dich nicht so an! Nutze endlich deine Fähigkeiten! So eine Aufforderung kann einem wie Blei auf der Seele liegen und sogar den letzten Mut nehmen.

Darum belässt es Paulus nicht bei dem Appell, dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit entsprechend zu leben. Unser Predigttext gleicht einem Oval, das anders als ein Kreis zwei Brennpunkte hat. Da ist die Erinnerung an den von Gott gegebenen Geist - und Paulus stellt uns zugleich Jesus Christus vor Augen, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat. In ihm  können wir das anschauen: Kraft, Liebe und Besonnenheit, nicht als unsere Eigenschaften, sondern Gottes Möglichkeiten für uns. Und wir sind berufen, ihm darin gleich zu werden. Darauf will Paulus hinaus. Berufen sind wir aber nicht wegen unserer Werke. Er beurteilt uns nicht nach unseren Werken; nach Erfolg und Niederlage, nach Verzagtheit oder Größenwahn. Unabhängig davon gilt seine Berufung; vor der Zeit der Welt, wie Paulus es ausdrückt.

Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen. Das ist ein großes Wort. Das können wir nur staunend und lobend nachsprechen, nicht aber einholen mit unseren nicht nur irdenen, sondern auch irdischen Gedanken und Worten. Wie sollte das gehen angesichts der Bilder von Ertrinkenden, der Geschichten von Menschen die immer wieder einsame und schreckliche Tode sterben? Sich das einzugestehen gehört wohl auch zu nüchterner Besonnenheit, die sich nicht in eine heile Welt davonträumt.

Aber wir haben von Gott nicht nur den Geist der Besonnenheit, sondern auch den der Kraft und der Liebe bekommen. Und was ihn auszeichnet ist, dass er auf Christus verweist – nicht auf unsere Kraft und unsere Liebe.

 Jeder Sonntag, aber dieser ganz besonders, ist ein kleines Osterfest. Dort hat die Hoffnung einen Ort und einen Namen bekommen, dass der Tod nicht das letzte Wort haben wird. Sterben müssen wir alle. Aber nicht die Dunkelheit des Todes wird das Letzte sein, sondern Gottes Liebe. Wo uns Gottes Geist zu dieser Hoffnung führt, da ist dem Tod schon heute die Macht genommen.

Und dann ist da das letzte Wort unseres Predigtabschnittes: Evangelium. Wie der Schlussstein eines gotischen Gewölbes, in dem alle Linien zusammenlaufen. Nicht eines der vier Evangelien ist gemeint, sondern die frohe Botschaft von Jesus Christus, das vom ganzen Neuen Testament bezeugte Evangelium, auch vom 2.Timozheusbrief - sei er nun von Paulus oder nicht. Es reicht nicht, dass wir diese frohe Botschaft nur hören oder lesen. Gott muss uns seinen Geist geben, damit sie uns auch berührt und auf Christus hin ausrichtet; damit wir Kraft, Liebe und Besonnenheit auch weitergeben können.  Dann erst klingt das Evangelium, wie es klingen muss. Und darauf kommt es ja an. Amen.

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